Unser Menschenleben ist eine kurze, vorübergehende Passage, eine Durchreise, vielleicht. Die Beiläufigkeit und Flüchtigkeit mit der unsere menschgemachte Zeit im Alltag dahinplätschert, vorüberhastet oder sich davonstiehlt, ist zugleich federleicht und drückend schwer.
Die Künstlerin Alice Baillaud widmet sich mit en passant der Vergänglichkeit unseres Daseins im Kontext zwischenmenschlicher Begegnungen:
Auf abertausend Wegen und Strecken begegnen sich Passanten als Unbekannte, verbringen vielleicht die Dauer eine Untergrundbahnfahrt oder die Warteminute an einer Ampel miteinander und entschwinden dann jeder wieder von der Umlaufbahn des anderen. Was aber bleibt von dieser flüchtigen Begegnung? Welche Spur hinterlässt eine zärtliche Handbewegung, ein trauriger Gesichtsausdruck, die Silhouette einer Schwangeren, ein energischer Schritt, bevor sie verklingen, überlagert werden von neuen Eindrücken und allmählich verblassen?
Aber selbst jene tiefen, intensiven Eindrücke, welche das Zusammensein mit den liebsten und wichtigsten Menschen in unserem Leben prägen: Kann von ihnen etwas die Zeit überdauern, oder sind auch sie dazu verurteilt, früher oder später zu verblassen?
Die Banalität und zugleich absurde Komplexität unserer menschlichen „Durchreise“ auf Erden, die einer großen Partitur von flüchtigen, aber auch tiefen und innigen Begegnungen gleicht, fasziniert und inspiriert die Künstlerin. In zwei komplementären Arbeitszyklen studiert Alice Baillaud die Spuren, die wir Menschen en passant hinterlassen:
In den aufwändig entwickelten Monotypien untersucht die Künstlerin den Augenblick des Verblassens zwischen Erinnerung und Vergessen: In immer neuen Konstellationen erscheint ein und dasselbe Figurenensemble, mal als deutliche Silhouetten, dann wieder schemenhaft und verschwommen, verblassend oder sich in Flecken auflösend. Wir erfahren nicht, wer diese Personen sind, die da immer wiederkehren und wie ruhelose Phantome oder Überbleibsel von Erinnerungen durch den luftleeren Raum geistern. Sie bewegen sich an einer unsichtbaren, ungreifbaren Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, Bewegung und Reglosigkeit, zwischen dem ich und dem anderen.
Die boîtes à rêves dagegen sind dreidimensionale, erleuchtete Welten, in welchen menschliche Silhouetten, schemenhafte Schatten, architektonische oder pflanzliche Strukturen zu einem intimen Mikrokosmos zusammenfinden. In diesen atmosphärischen Traumräumen entspinnt sich mal die hauchzarte Ahnung einer Geschichte, mal eine zerbrechliche Leerstelle, ein Augenblick von tiefer Ruhe oder angespannter Ruhelosigkeit. Hinter der vordergründigen Leichtigkeit und Poesie dieser Mikrokosmen verbirgt sich eine zutiefst beunruhigende Frage, ohne deren tagtägliche Verdrängung wir zu Leben kaum imstande wären: Die Frage nach unserer Vergänglichkeit und dem Verblassen aller Spuren, die dereinst an uns und unsere Liebsten erinnern werden.
Durch die sorgfältige Inszenierung von Licht, Schatten und das Spiel mit Transparenz und Reflexion, macht Alice Baillaud flüchtige Momente erlebbar und lädt den Betrachter dazu ein, ihre poetischen Universen gedanklich zu betreten.
Sina Ness
"en passant", les boîtes à Rêves - solo show - Saalbau galerie, Berlin -2017